25 Feb. 2022

Zum 50. Todestag von Gottfried Fuchs

 

Quelle: DFB.de

Sein Rekord ist einzigartig, seine Leidensgeschichte ist es auch. Gottfried Erik Fuchs (†82) ist der deutsche Nationalspieler, der die meisten Tore in einer Partie schoss. Er war auch der Einzige, der aus Deutschland fliehen musste um sein Leben zu retten. Fuchs, der am 25. Februar 1972 in Montreal/Kanada heute vor exakt 50 Jahren starb, war Jude. 1912 schoss er bei den Olympischen Spielen in Stockholm beim Rekordsieg (16:0) über Russland zehn Treffer, was kein Gerd MüllerUwe Seeler oder Miroslav Klose je erreicht hat.

Über den sportlichen Wert jener Partie mag man streiten, nicht aber darüber, dass Tore Fuchs' Markenzeichen waren, die er oft nach Sololäufen erzielte. Im Sport Magazin stand noch 1956 über ihn zu lesen: "Er war eine überragende Spielerpersönlichkeit von bewundernswerter Eleganz im Spiel und schnell und sicher im Torschuss. Der KFV-Stürmer besaß eine wunderbare Spielübersicht, spielte immer uneigennützig und gilt als einer der genialsten Mittelstürmer, der je in einer deutschen Ländermannschaft stand. Fußballsport war für ihn nichts weiter als Freude am Spiel."

Er hatte schon bei seinem Debüt am 26. März 1911 gegen die Schweiz (6:2) in Stuttgart getroffen - mit der Brust - und nach 35 Minuten lag der Ball im Netz. Allerdings traf er nur einmal und nicht doppelt an diesem Tag, Jahrzehnte lang stand es fälschlich in den Chroniken. Denn 2011 kam heraus, dass ein Tor in Wahrheit Max Gablonsky (Bayern München) gebührte. Dennoch ist seine Torquote - 13 Treffer in nur sechs Einsätzen ergeben 2,16 pro Spiel - einmalig in 114 Jahren deutscher Länderspielhistorie.

Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte

Vier Wochen später durfte er erstmals auf Auslandsreise mit dem DFB gehen, in Brüssel stand er nun gegen Belgien auf der Verliererseite (1:2). Ein Jahr verging, bis man ihn wieder nominierte. Beim legendären 5:5 im März 1912 in Zwolle gegen die Niederlande stand er zwar im Schatten seines Klubkameraden Julius Hirsch (vier Tore), aber das gewiss gerne - sie waren Freunde. Außerdem schoss er, wie bei seinem Debüt, wieder das erste deutsche Tor. Dieses Spiel bereitete zwei Jahrzehnte danach den Nazi-Propagandisten großes Unbehagen, da alle Tore von Juden erzielt worden waren. Was ja nicht sein konnte, da es nicht sein durfte. In einer Chronik von 1941 heißt Fuchs daher nur "der Mittelstürmer", Hirsch ist "ein anderer deutscher Stürmer", oder "der Halblinke". Dazu später mehr.

Weil es damals noch keinen DFB-Auswahltrainer gab und Aufgebote in der Frühzeit der Nationalelf stark nach regionalen Gesichtspunkten zusammengestellt wurden - kein Heimspiel ohne Lokalmatadoren - kam Fuchs nicht auf so viele Spiele, wie er es verdient gehabt hätte. Immerhin durfte er mit zu den Olympischen Spielen nach Stockholm, aber zum Auftakt gegen die Österreicher (1:5) saß er auf der Tribüne. Der Medaillentraum war damit schon geplatzt.

Nun ging es mit einer komplett neuen Elf in die Trostrunde, wo es zum erwähnten Schützenfest gegen die Russen kam, bei denen der Fußballsport noch ganz am Anfang stand. Zwar hatten sie sich gegen Finnland zwei Tage zuvor beachtlich geschlagen (1:2), aber gegen die Deutschen standen sie auf verlorenem Posten. Allerdings nicht, wie es die Legende sagt, wegen einer gemeinsam durchzechten Nacht mit den Deutschen, die das angeblich weit besser vertragen hätten. Die sich hartnäckig haltende Geschichte hat DFB-Torwart Adolf Werner widerlegt, aber leider wohl nicht nachhaltig genug. "Beim Bankett waren sie sogar noch froh, dass die Niederlage nicht höher ausgefallen war.", erzählte er dem Sport Magazin 1955. Es war also nach dem Spiel.

Zehn Tore in einem Spiel

Fuchs wiederum hatte den größten Anteil an dem Rekordergebnis, übrigens auch für Olympische Spiele - gleichauf mit Dänemarks 17:1 gegen Frankreich 1908. Wieder schoss er das erste Tor (2. Minute), doch diesmal beließ er es nicht dabei. Auch das 3:0 (9.), 4:0 (21.), 6:0 (28.) 8:0, 9:0, 10:0 (34., 46., 51.), 12:0 (55.), 14:0 (65.) und 16:0 (69.) gingen auf sein Konto. Damit stellte er den Weltrekord des Dänen Sophus Nielsen im besagten 17:1-Schützenfest von 1908 ein, der Jahrzehnte lang hielt und erst seit 2001 bei 13 Toren steht.

In diesem Fall musste auch die NS-Chronik von 1941 seinen Namen nennen, so schwer es auch den Redakteuren gefallen sein dürfte. In der heutigen Zeit wäre gewiss ein Riesenhype entstanden, in einer Epoche weit vor elektronischen Medien und dem Internet blieb der Wirbel aus. In der BZ am Mittag wurden seine Tore schon 1912 verschwiegen, aber nicht aus politischen Gründen. Der Korrespondent hatte ihn schlicht mit Julius Hirsch, der gar nicht dabei war, verwechselt.

Beim abschließenden Olympiaspiel gegen die Ungarn (1:3) waren beide im Einsatz, gingen aber leer aus. Wieder gingen eineinhalb Jahre ins Land, ehe Fuchs am 23. November 1913 noch einmal spielen durfte - erneut in Belgien. Er trat in Antwerpen mit einer 2:6-Niederlage ab, aber auch mit einem Tor, das für das zwischenzeitliche 2:5 sorgte. Es war ein echter Abstauber nach einem Torwartfehler und illustrierte einmal mehr seinen Torriecher.

Erst Westdeutscher, dann Deutscher Meister

Auch auf Vereinsebene war der schlaksige dunkelhaarige Mann von Beginn an erfolgreich. 1907 wurde der gebürtige Karlsruher Westdeutscher Meister mit dem Düsseldorfer FC 1899, damals war der gerade 18-Jährige beruflich am Rhein tätig und prompt auch im "Nebenberuf" erfolgreich. Er schoss im Viertelfinale um die Deutsche Meisterschaft, noch 17-jährig, das einzige Tor seines Klubs. Dann ging der Kaufmannssohn sogar ein Jahr nach England, worüber wenig bekannt ist.

1909 kehrte er in die Heimat zurück, arbeitete in der Holzhandlung seines Vaters Gustav und schloss sich dem Karlsruher FV an, einem der führenden Klubs der deutschen Fußballantike. Schon 1910 wurde er mit dem KFV Deutscher Meister. Er kam in allen Endrundenpartien zum Einsatz und schoss im Halbfinale gegen Lokalrivale Phönix Karlsruhe (2:1) wieder mal das erste Tor. Im Londoner Filmarchiv gibt es übrigens einige wacklige Aufnahmen von dieser Partie (2:14 Minuten), die Tore zeigen sie nicht.

Im Finale gegen Holstein Kiel (1:0) ging Fuchs leer aus, dafür punktete "der Gentleman-Stürmer", wie er genannt wurde, auf dem Bankett. Den erst in der Verlängerung erlegenen Kielern, die mit gesenkten Köpfen an ihren Tischen saßen, demonstrierte er auf rührende Weise den Respekt des Siegers. Er klopfte an sein Weinglas, bat um einen Moment Ruhe, sprach ein paar anerkennende Worte und überreichte dann jedem Spieler einen Zweig aus dem Lorbeerkranz, alle elf trennte er eigenhändig ab. So war Gottfried Fuchs - schon mit 21 Jahren ein wahrer Sportsmann und sehr erwachsen.

Karriereende 1920, Flucht 1933

Verbürgt ist auch die Geschichte, dass er in einem Spiel gegen Wiesbaden auf einen Foulelfmeter für den KFV verzichtete und dem Schiedsrichter gestand: "Ich bin über die eigenen Beine gestolpert." 1911 stand er mit dem KFV im Halbfinale und 1912 kam es zur Neuauflage des Finals mit Kiel, diesmal gewann Holstein (1:0). Dann klang die große KFV-Zeit allmählich aus, für Fuchs stehen acht Endrundenspiele um die Deutsche Meisterschaft und fünf Tore zu Buche.

1920 beendete er seine durch den Krieg, in dem er für Deutschland kämpfte, ohnehin jäh unterbrochene Laufbahn. Er heiratete Eugenia Steinberg (1896-1965), das Paar hatte vier Kinder. Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, zählten seine Verdienste nichts mehr. Weder seine Tore noch seine Auszeichnungen im Ersten Weltkrieg, in dem er viermal verwundet worden war.

Es durfte nicht sein, dass Juden in Deutschland Rekorde hielten. Und so kam es zu einer bizarren Praxis: Die Tore und Einsätze der beiden jüdischen Nationalspieler Fuchs und Julius Hirsch wurden aus Jahrbüchern und Statistiken gestrichen. Ob das eine Weisung an das Reichsfachamt für Leibesübungen war oder Ausdruck vorauseilenden Gehorsams, lässt sich heute nicht mehr klären. Stringent wurde es jedenfalls nicht befolgt, im kicker-Almanach von 1943 sind Fuchs und Hirsch beispielsweise noch verzeichnet. In diversen Chroniken jener dunklen Tage eierten die Journalisten, wie geschildert, indes herum. Das Ergebnis musste ja trotzdem stimmen, über die Torschützen ließ man die Leser jedoch im Unklaren.

Rückkehr nach Karlsruhe erst 1954

Selbst sein Ex-Verein schämte sich für den einstigen Meisterstürmer. Als 1943 ein Kicker-Bilderalbum aller Nationalspieler seit 1908 vorbereitet wurde, wollte der Verlag Informationen über Fuchs und Julius Hirsch einholen. Der KFV-Vorsitzende antwortete dem Redakteur Michael Steinbrecher: "In Erledigung ihrer Anfrage über die Spieler Fuchs und Hirsch weise ich zunächst darauf hin, dass diese beiden Spieler unserer Meisterelf von 1910 Nichtarier sind. Ich bin sehr im Zweifel, ob dieselben in dem Bilderwerk mitaufgeführt werden sollen. Es ist für den KFV nicht unbedingt wünschenswert, dass immer auf die früher nicht geringe Zahl jüdischer Mitglieder aufmerksam gemacht wird." So fehlte das KFV-Duo dann auch in dem Album.

Während Gottfried Fuchs, der zuvor noch einige Jahre in Berlin lebte, mit Familie 1937 in die Schweiz floh und 1939 nach Kanada auswanderte, blieb Julius Hirsch im Lande, ehe er 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde.

Auch Fuchs kam nie zurück, abgesehen von einigen kurzen Stippvisiten, zu tief waren die Wunden, zu schmerzlich die Erinnerungen. Auch Schwester Senta wurde 1943 in Auschwitz ermordet. 1954 aber kam er nach Karlsruhe, als es ihn sogleich zum Sportplatz an der Telegrafenkaserne zog, auf dem er einst seine Tore schoss.

"Ihm müsst ihr’s nachmachen"

Er nannte sich nun Godrey E. Fochs, als äußeres Zeichen dass er eine neue Heimat gefunden hatte, auch wenn er dort schon im ersten Jahr die bereits 78-jährige Mutter verlor. Sara Fuchs, geborene Durlacher, wurde 1941 in fremder Erde begraben, immerhin starb sie in Freiheit.

Nach dem Krieg wollten die Deutschen vor allem eines: verdrängen. Auch im Fußball gab es nur sehr wenige, die nicht dem kollektiven Gedächtnisverlust unterlagen. Einer davon war Bundestrainer Sepp Herberger. Der war Fuchs zwar nie persönlich begegnet, sah ihn aber schon als Kind in Mannheim einmal spielen und weil er ihn und seine Kameraden Fritz FördererMax Breunig oder Julius Hirsch schier verehrte, ließ er 1955 anlässlich des ersten Länderspiels in Russland die Nationalspieler eine Grußkarte an ihn unterschreiben. Er spornte seine Weltmeister an: "Ihm müsst ihr’s nachmachen, er hat zehn Tore gegen Russland geschossen."

Die Karte steckte er in einen Briefumschlag, steuerte noch ein paar persönliche Zeilen dazu bei. Godfrey E. Fochs antwortete: "Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr mich ihr natürlicher und herzlicher Brief gerührt hat." Sein KFV wollte ihn nun plötzlich ehren, lud ihn mehrmals in die alte Heimat ein. Doch Fuchs lehnte ab "weil sie den Julius Hirsch ermordet haben." So blieb es bei der einen Ehrung von 1912. Der preußische Kronprinz Wilhelm überreichte ihm nach der Rückkehr aus Stockholm einen Silberpokal für seinen Rekord vom 1. Juli 1912. Es ist einer für die Ewigkeit.

Verpasste Gelegenheit einer Ehrerweisung

Kein Ruhmesblatt der DFB-Geschichte ist der Vorgang von 1972, als wieder ein Spiel gegen die Russen anstand. Sie kamen zur Einweihung des Münchner Olympiastadions im Mai und Sepp Herberger fand, dass dies auch eine schöne Gelegenheit wäre, Fuchs dazu einzuladen. Aus seinen Unterlagen geht hervor, dass er dem DFB schrieb dies würde "als ein Versuch der Wiedergutmachung willfahrenen Unrechts sicherlich…überall in Deutschland ein gutes Echo finden."

Der DFB lehnte ab, unter Verweis auf finanzielle Gründe. Man wolle keinen Präzedenzfall schaffen, "der auch für die Zukunft noch erhebliche Belastungen mit sich bringen könnte", antwortete der Schatzmeister Hubert Claessen. Da Fuchs drei Monate vor dem Spiel einem Herzschlag erlag, erfuhr er nie von der Kontroverse, die Öffentlichkeit auch nicht, ehe der Historiker Werner Skrentny sie 2012 in seinem Buch über Julius Hirsch aufdeckte.

Regelmäßiger Austausch mit den Fuchs-Enkeln

Mit dem Abstand von 50 Jahren wird die DFB-Position heute ausdrücklich bedauert. Eine entsprechende Anfrage des kicker beantwortete der Verband so: "Welche Motive den DFB-Vorstand 1972 bewegt haben, dem Vorschlag von Sepp Herberger eine Absage zu erteilen, kann der DFB mit dem heutigen Kenntnisstand nicht beurteilen. Vor dem Hintergrund des Leids, das Gottfried Fuchs und seiner Familie angetan wurde, ist sie allerdings unverständlich und sogar beschämend."

Heute gibt es weniger Grund zum Schämen. Der DFB steht im Austausch mit den Fuchs-Enkeln, lud zwei von ihnen 2012 zu einem Länderspiel nach Berlin ein (dem legendären 4:4 gegen Schweden) und zur Verleihung des Julius Hirsch Preises, in dessen Rahmen auch eine Begegnung mit den Nachkommen von Julius Hirsch stattfand, deren Familien heute freundschaftlich verbunden sind. In Baden-Württemberg verleihen die drei Landesverbände alle zwei Jahre einen nach Fuchs benannten Jugendpreis. Auch die DFB-Kulturstiftung und das Fußballmuseum erinnern regelmäßig an die Lebens- und Leidenswege der jüdischen Fußballer, denen das "Deutschsein genommen" wurde, wie es Fuchs-Enkelin Monica Heller dem kicker gegenüber sagte. Heute vor 50 Jahren also starb Gottfried Fuchs. Der Boden ist bereitet, dass auch seines 100. Todestags im Land seiner Väter gedacht wird.

Jugendpreis Gottfried Fuchs in Baden-Württemberg

Seit 2016 erinnern die drei baden-württembergischen Fußballverbände erinnern mit dem Jugendpreis Gottfried Fuchs an den deutschen Nationalspieler jüdischer Herkunft. Der Jugendpreis zeichnet Vereine aus, die sich in Form von Projekten/Initiativen alleine oder in Kooperation mit Schulen für Menschlichkeit und Toleranz entschieden eintreten und sich gegen Antisemitismus, Rassismus, Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit und andere Formen der Diskriminierung besonders engagieren. 

Der Jugendpreis geht auf die Initiative des 2015 verstorbenen, langjährigen DFB-Vizepräsidenten und Ehrenpräsidenten des Württembergischen Fußballverbands, Dr. h. c. Alfred Sengle, zurück.  

Vertreter des Badischen Fußballverbandes tauschten sich damals stellvertretend für alle drei Fußballverbände mit der Enkelin von Gottfried Fuchs, Prof. Dr. Monica Heller aus Toronto, und Andreas Hirsch, dem Enkel von Julius Hirsch aus Karlsruhe, aus. Beide unterstützten die Fußballverbände gerne bei der Entwicklung des Jugendpreises. „Unsere Familie freut sich außerordentlich, dass sich die Werte wie Fair Play, Respekt und Toleranz unseres Großvaters in einem nach ihm benannten Jugendpreis wiederfinden“, sagte Heller bei ihrem Besuch in der Sportschule Schöneck. Helmut Sickmüller, damaliger bfv-Vizepräsident betonte: „Wir setzten mit dem Jugendpreis gemeinsam mit unseren Vereinen in Baden-Württemberg ein deutliches Zeichen gegen Rassismus und Antisemitismus“. 

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